Aus:
Ethnische Minderheiten in Deutschland:
Arbeitsmigranten, Asylbewerber, Ausländer, Flüchtlinge, regionale und religiöse Minderheiten, Vertriebene, Zwangsarbeiter
Berliner Insitut für Vergleichende Sozialforschung (Hg.). - Berlin:
Edition Parabolis. - Losebl.-Ausg. - Grundwerk. - 1992. - ISBN 3-88402-063-3. - Lfg. 1 (1992) - 3 (1994).
Die Migration polnischer Staatsangehöriger in die Bundesrepublik der achtziger Jahre ist im Verhältnis zu ihrer Zahl und der gesellschaftlichen Bedeutung von deutscher Seite bisher kaum erforscht worden.1 Nur die Migration der "Aussiedler" ist, auch aufgrund der entsprechenden Förderung, in größerem Maße Gegenstand der Forschung geworden. Allerdings wird meines Erachtens die Realität durch die Prämissen, die sich aus der offiziellen Sichtweise dieser Migranten als "Deutschstämmige" ergeben, verzerrt. Ich werde deshalb hier nicht näher auf die soziale Situation der Aussiedler eingehen, sondern nur auf die bundesdeutsche .Annerkennungspraxis, die Sozialisation der "Aussiedler" in Polen und die daraus resultierenden Folgen.
Im Rahmen dieser Arbeit müssen die kulturellen Ausdrucksformen polnischer Migranten und deren Beitrag zum hiesigen Kulturleben unberücksichtigt bleiben, deren Bearbeitung würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Ebenso kann hier nur in wenigen Stichworten auf die Geschichte der polnischen Zuwanderung seit dem 19. Jahrhundert bis nach dem zweiten Weltkrieg eingegangen werden. Näheres hierzu müsste der vorhandenen und in der Bibliographie angegebenen Literatur entnommen werden.
Was die Situation der polnischen Staatsangehörigen betrifft, so habe ich in vielen Bereichen "Neuland" betreten. Ich konnte mich hier oft nicht auf wissenschaftliche Arbeiten anderer stützen. Wenn im folgenden von "unserer Erfahrung" die Rede sein wird, so handelt es sich um die Kenntnisse und Einblicke, die der 1982 gegründete Polnische Sozialrat, eine Selbsthilfeorganisation polnischer Immigranten in Berlin, im Laufe seiner Arbeit gewann. Seit 1989 bin ich Vorstandsmitglied dieses Vereins.
Polen ist seit 200 Jahren eines der klassischen Auswanderungsgebiete Europas, und man schätzt dort, dass zwischen 13 und 15 Millionen Polen und Nachkommen polnischer Emigranten außerhalb des Landes leben2, davon nach neuesten Angaben polnischer offizieller Stellen rund eine Million in der Bundesrepublik Deutschland. Die polnische Emigration erfolgte dabei teils in politisch motivierten Ausreisewellen, wie nach den Teilungen des Landes im 18. Jahrhundert, nach den misslungenen Aufständen im 19. Jahrhundert und in diesem Jahrhundert während und nach beiden Weltkriegen sowie nach den Aufständen 1956 und 1968 sowie zuletzt nach der Ausrufung des Kriegsrechts und dem Verbot der Solidarność am 13. Dezember 1981.
Deutschland zählte dabei zu den wichtigsten Zielländern freiwilliger und zwangsweiser polnischer Migration. Die Statistiken der alten Bundesrepublik zählten für 1989 lediglich eine Zahl von 220.400 melderechtlich registrierten polnischen Staatsangehörigen, von denen der größte Teil in den achtziger Jahren zugewandert ist. Die tatsächliche Zahl von Polen und Nachkommen polnischer Emigranten dürfte um ein Vielfaches höher liegen. dass es dabei nicht zur Herausbildung einer regen polnischen ethnischen Community - wie zum Beispiel in den USA - kam, liegt meines Erachtens weniger an der oft zitierten Assimilationsbereitschaft der polnischen Immigranten, sondern am Assimilationsdruck, dem diese Gruppe stets unterlag und noch unterliegt. Unter "Polen" verstehe ich im folgenden diejenigen, die sich ihrer Herkunft bewusst sind und diese auch manifestieren. Dieser Personenkreis muss in sechs Gruppen unterteilt werden, die sich durch die unterschiedliche Geschichte ihrer Migration, ihren Grad der Assimilation und ihren rechtlichen Status stark unterscheiden:
Die Geschichte der wechselseitigen Wanderungen von germanischen und slawischen Stämmen in das jeweilige Siedlungsgebiet reicht über 1.000 Jahre zurück. Heute noch relevant sind vor allem die Polen die in der der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Deutschland wanderten. Bekannt sind heute noch vor allem die "Ruhrpolen", die sich in den aufstrebenden lndustrieorten Westfalens niederließen.3 Weniger bekannt ist, dass sich auch in Berlin eine rege polnische Gemeinde entwickelte (Hartmann: 1990).
Die polnischen Migranten waren entweder preußische/deutsche, österreichische oder russische Staatsangehörige je nach ihrer Herkunft aus dem jeweiligen Teilungsgebiet. Für die "ausländischen" Polen wurde bereits damals das ausländerrechtliche Instrumentarium entwickelt, wie es sich heute im bundesdeutschen Ausländergesetz wiederfindet. Die Polen deutscher Staatsangehörigkeit unterlagen im Kaiserreich der polizeilichen Überwachung und Repressionen, wie zum Beispiel dem Verbot der polnischen Sprache bei öffentlichen Versammlungen. Neben sicherheitspolitischen Erwägungen spielten damals bereits "Überfremdungsängste" eine Rolle beim Erlass dieser Maßnahmen. Nach dem ersten Weltkrieg legte die Weimarer Republik in ihrer Verfassung Minderheitenrechte fest, die - auf dem Papier - weitgehender waren als dies zum Beispiel heute in der Bundesrepublik der Fall ist.
"In den 20er Jahren kehrte ein Teil der Ruhrpolen in die Heimat zurück, andere wanderten im Gefolge der Bergbaukrise nach Frankreich weiter – Ende der 20er Jahre war die Zahl der Ruhrpolen auf ein Drittel des Vorkriegsstandes gesunken und einem verstärkten Assimilationsdruck ausgesetzt, der die polnischen lnteressenorganisationen schnell bis zur Bedeutungslosigkeit schrumpfen ließ" (Herbert: 1986, S. 80).4
Nach der Machtergreifung Hitlers und der Nichtangriffserklärung zwischen Deutschland und Polen vom 26. Januar 1934 verbesserte sich die Lage der Polen in Deutschland, bis dieses Abkommen am 28. April 1939 in einer Reichstagsrede von Hitler gekündigt wurde. Bis dahin hatte sich eine rege polnische Community entwickelt mit zahlreichen Vereinen, eigenen Genossenschaftsbanken, eigener Presse, Gewerkschaften und regem Kulturleben. Kurz vor dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 wurde begonnen, die polnische Infrastruktur zu zerschlagen, die Führung, bis hin zu den Ortsverbandsvorständen der Vereine, verhaftet und das Vermögen der Vereine beschlagnahmt. Der Großteil der nicht-jüdischen Mitglieder der polnischen. Community blieb als deutsche Staatsangehörige unbehelligt, sofern sie sich anpassten. Aus Berlin ist uns der Fall eines Polen bekannt, der so auf Seiten der deutschen Wehrmacht in Polen kämpfen musste. Der größte Teil der damals zugewanderten Polen und ihrer Nachkommen tritt in der Öffentlichkeit nicht mehr als solche in Erscheinung.5 Nur etwa 10.000 bis 20.000 Polen der alten Migration sind unserer Schätzung nach noch in ihren Vereinen organisiert.
Hierbei handelt es sich um polnische Zwangsarbeiter und Häftlinge, die nach der deutschen Kapitulation in den Besatzungsgebieten der Westalliierten verblieben waren oder die später aus der sowjetischen Besatzungszone dorthin flohen.6 Sie wurden, im Gegensatz zu sowjetischen Staatsangehörigen, überwiegend nicht zwangsrepatriiert und kehrten auch nicht freiwillig in den sowjetischen Einflussbereich zurück. dass sie im Gegensatz zu Russen oder Ukrainern nicht repatriiert wurden, lag zum Teil am mangelnden Interesse der Sowjetunion, aber auch an der moralischen Verpflichtung der Westalliierten gegenüber Polen. Viele Polen hatten auf ihrer Seite gekämpft und waren zu Zehntausenden bei der Befreiung Frankreichs und Belgiens gefallen. 1954 wurden noch über 80.000 Polen in Westdeutschland gezählt. Danach wurde für sie aufgrund alliierter Einflussnahme der Status eines "heimatlosen Ausländers" geschaffen, der sie in ihren Rechten im wesentlichen den deutschen Staatsangehörigen gleichstellte.
Ihre Integration erwies sich aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen und der Vorbehalte der deutschen Bevölkerung als schwierig. Erschwerend kam hinzu, dass der überwiegende Teil von ihnen zwar in andere Länder weiter wandern wollte, dass aber aufgrund der jeweils restriktiven Einwanderungsbestimmungen dies nur etwa einem Drittel der 120.000 nach dem Krieg gezählten Displaced Persons möglich war. Da die Aufnahmeländer eine selektive Auswahl vornahmen, zählten die Verbliebenen oft zu den benachteiligten Gruppen (alleinstehende Frauen mit Kindern, Kriegsversehrte, Personen ohne Ausbildung).
Trotz der relativ geringen Zahl von Angehörigen der Intelligenz7 unter den ehemaligen Zwangsarbeitern entwickelte sich anfänglich eine rege polnische Community mit eigenen Vereinen, Zeitungen und Bildungseinrichtungen. Diese Community wurde mit Ausbruch des Kalten Krieges in ihren exilpolitischen Aktivitäten von den Alliierten unterstützt. Mit schwindender Einflussnahme der Alliierten und zunehmender Abhängigkeit von deutschen Behörden ließen die Aktivitäten dieser Gruppe jedoch nach.8
Nach dem Zweiten Weltkrieg hinderte der "Eiserne Vorhang" mit den restriktiven Paß- und Devisenbestimmungen "Volkspolens" den Großteil der Bevölkerung an Reisen oder an der Emigration ins westliche Ausland. Wer emigrieren wollte, musste sich langwierigen und oft erniedrigenden Prozeduren unterwerfen - ohne Sicherheit des Erfolgs. In den siebziger Jahren erfolgte in Polen eine Liberalisierung der Passgesetze, die sich bis in das Jahr 1981 steigerte, in dem allein 1.274.000 Pässe für Westreisen ausgestellt wurden. Ein Großteil dieser Reisenden kehrte jedoch nach Polen zurück. Mit der Ausrufung des Kriegszustandes am 13. Dezember 1981 wurden die Grenzen geschlossen, und zahlreiche Polen, die sich im Ausland befanden, blieben dort, um die weitere Entwicklung abzuwarten. Mit der Lockerung des Kriegsrechts wurde der Reiseverkehr in westliche Länder schrittweise wieder erleichtert. Am 15. März 1982 wurde internierten Personen die unproblematische Ausreise gestattet- eine verdeckte Abschiebung. Von 1970 bis 1987 haben so rund eine Million Menschen das Land verlassen.9 Am 23. November 1989 wurde geschätzt, dass 556.000 polnische Staatsangehörige nach dem 30. April 1981 offiziell als Touristen oder Dienstreisende ihr Land verlassen und bis dato die Zeit ihres legalen Auslandsaufenthaltes um mindestens elf Monate überschritten hatten (vergleiche Okólski: 1991, S. 9). Von 1981 bis 1988 emigrierten 222.000 Personen offiziell - davon allein 58 Prozent in die Bundesrepublik Deutschland – als "Aussiedler" oder im Rahmen der Familienzusammenführung (Okólski: 1991, S. 11).
Hier stütze ich mich im wesentlichen auf unsere Erfahrungen im Polnischen Sozialrat sowie auf eine Untersuchung von Grażyna Pomian und Marek Tabin, die 1989 in der polnischen Exilzeitschrift Kultura in Paris veröffentlicht worden ist (Pomian/Tabin: 1989). Für die Untersuchung von Pomian/Tabin wurden 850 in den achtziger Jahren emigrierte Leser der Kultura befragt. Sie kann insofern nicht repräsentativ sein, als diese Zeitschrift in der Regel von überdurchschnittlich Gebildeten gelesen wird. Da sich die Ergebnisse jedoch oft mit unseren eigenen Erfahrungen decken und die polnischen Migranten insgesamt überdurchschnittlich gut ausgebildet sind10 gehe ich davon aus, dass diese Untersuchung einen brauchbaren Annäherungswert an die tatsächliche Situation darstellt.
Von den Befragten hielten sich in Italien 262, in Westdeutschland 111, in Griechenland 107, in Australien 78, in den USA 76, in Kanada 59 und in Schweden 58 Personen auf. Unter den in Deutschland Befragten war niemand, der angab, sich auf seine "deutsche Volkszugehörigkeit" berufen zu haben. Die regionale Herkunft in Polen verhielt sich, bezogen auf den letzten Wohnort, analog. zur Verteilung der Bevölkerung mit Ausnahme einer Unterrepräsentanz der südöstlichen Wojewodschaften Polens.11 Bei der Frage nach dem vorherigen Wohnort der Migranten oder ihrer Familie zeigte sich jedoch, dass hier die meisten aus den ehemaligen polnischen Ostprovinzen vertrieben worden waren, die nach dem zweiten Weltkrieg unter sowjetische Herrschaft gerieten. Die Untersuchung kommt zu der Annahme, dass "die mangelnde Verwurzelung, also die fehlenden gesellschaftlichen Bindungen Einfluss auf die Entscheidung zur Migration hatten" (Pomian/Tabin: 1989, S. 9). 12
Auf die Frage nach der direkten Zugehörigkeit zu einer politischen Organisation vor dem 13. Dezember 1981 antworteten 12 Prozent nicht, und weitere 41 Prozent gaben an, nicht organisiert gewesen zu sein. Hierbei muss jedoch angemerkt werden, dass viele der Befragten zu jung waren, um damals bereits politisch aktiv gewesen zu sein. Was politische Aktivitäten nach dem 13. Dezember 1981 betrifft, die zwangsläufig Repressalien nach sich zogen, so gaben 16,1 Prozent an, dass sie deswegen im Gefängnis gewesen waren, 6,6 Prozent waren interniert worden, und 33,5 Prozent gaben an, von der Polizei schikaniert worden zu sein (durch Hausdurchsuchungen, Festnahmen, Vorladungen und Verhöre, Drohungen gegenüber den Migranten und ihren Kindern etc.).13 Diese Antworten erfassen jedoch nicht das gesamte Instrumentarium politischer Repressionen, wie es annähernd vergleichbar auch aus der DDR bekannt ist – so zum Beispiel auch Entlassungen, Verweigerung von Reisepässen etc.
Bei der Entscheidung zur Migration dürfte der Wohnungsmangel in Polen ebenfalls eine Rolle gespielt haben. 49 Prozent der Befragten besaßen keine eigene Wohnung, und 32,2 Prozent der unter Dreißigjährigen bezeichneten die Wohnungssituation im Land als katastrophal.14 Wichtig war oft auch die Anwesenheit von Bekannten oder Verwandten im Westen. 26 Prozent gaben an, dort Verwandte ersten Grades zu haben, 21,3 Prozent hatten andere Verwandte im Westen, 30,5 Prozent besaßen enge Bekannte, die meist vor 1979 emigriert waren, und nur 19,2 Prozent gaben an, keine nahen Bekannten oder Verwandten gehabt zu haben. Zu der letzten Gruppe bleibt die Antwort eines Befragten anzumerken, der schrieb: "Meine Familie hatte niemanden im Westen, also hat sie mich als Jüngsten und Ausgebildeten delegiert" ( Pomian/Tabin: 1989, S. 12). Verwandtschaftliche oder andere Beziehungen zur schätzungsweise 800.000 Personen umfassenden alten Migration in der Bundesrepublik spielten ergo eine wichtige Rolle bei der Entscheidung zur Migration.15 43,5 Prozent kannten den Westen bereits vor der Auswanderung durch eigene Reisen. Ihr Wissen über den Westen bezogen die Migranten außerdem von Bekannten und Verwandten, aus ausländischen Radiosendungen in Polnisch, zum Beispiel Radio Free Europe oder auch der Deutschen Welle (46,7 Prozent), aus ausländischen Büchern, hauptsächlich in Polnisch (37 Prozent), und aus der "Regierungspropaganda" (12,7 Prozent).16
Die Antworten auf die Frage nach den persönlichen Motiven, die zur endgültigen Entscheidung für die Emigration führten, schildern Pomian/Tabin mit Ironie. "Die Antworten hatten sehr differenzierten Charakter — in drei Worten: “wegen der Kommune” - und das in seitenlangen Abhandlungen" (Pomian/Tabin: 1989, S. 13)17. 69 Prozent der Befragten bezeichnen ihre Motive als politisch. Unter "politisch" ist hier die tiefe Abneigung gegen den Sozialismus, gegen alles, was kommunistisch oder "rot" ist, zu verstehen. Eine Abneigung gegen ein System, das das Leben der Bevölkerung bis in den privaten Bereich hinein regelt, das die Menschen in Angst hält vor einem übermächtigen Staatsapparat, gegen den keine effiziente und legale Gegenwehr möglich ist. Angeführt werden neben Repressionen die mangelnde Freiheit bei der Berufswahl, die Zensur, der Zwang zur Teilnahme an staatlichen Organisationen und Veranstaltungen bis hin zur obligatorischen 1. Mai-Demonstration.
36,5 Prozent gaben ausdrücklich an, dass sie auch aus materiellen Gründen Polen verlassen hätten. Pomian/Tabin vermuten zu Recht, dass die Verbesserung der materiellen Situation bei den meisten Entscheidungen zur Migration eine Rolle gespielt haben mag. Nur rund ein Drittel der Migranten geben dies jedoch als den entscheidenden Faktor an. 13,7 Prozent gaben an, dass sie in Polen nicht in ihrem eigentlichen Beruf arbeiten konnten. 11,2 Prozent gaben an, ein stabiles Leben ohne Stress zu suchen. Sie wollten in einem Land leben, in dem das Leben "wie eine Schweizer Uhr" reguliert ist. Dies war vor allem das Interesse von Frauen, die mit Blick auf die Zukunft ihrer Kinder emigrierten. Deren Krankheiten und die Behandlungsmöglichkeiten sowie die katastrophale ökologische Situation in Polen wurden oft als Auswanderungsmotiv angegeben. Hinzu kommt die Mühsal der alltäglichen Beschaffung des Notwendigen in der Mangelwirtschaft, die vor allem auf den Schultern der Frauen lastete.
Pomian/Tabin teilen die Untersuchten nach ihren Antworten in fünf Kategorien ein:
Aus unserer Erfahrung lässt sich noch anmerken, dass die Vielzahl der möglichen Motive sich durch diese Aufzählung nicht erfassen lässt. Wir kennen in Berlin wissenschaftlich Interessierte, die sich durch die Sammlung polnischer Literatur in der Staatsbibliothek zum Bleiben bewegen ließen. Und nicht zuletzt kennen wir junge Polen, die aus den gleichen Motiven aus Katowice nach Berlin zogen, aus denen es auch junge Schwaben aus Göppingen nach Berlin zieht. Der Großteil der "nur" polnischen Staatsangehörigen in West-Berlin scheint aus westlichen Wojewodschaften zu stammen, den Gebieten um Poznań (Posen), Wrocław (Breslau), Szczecin (Stettin), Gorzów Wielkopolski (Landsberg) und Jelenia Góra (Hirschberg).
Die Heirat mit einem deutschen Partner dürfte eine untergeordnete Rolle bei der Entscheidung zur Migration gespielt haben. Wenn solche Ehen geschlossen wurden, dann wohl meist in Deutschland.18
Bei einer Entscheidung für die Bundesrepublik und West-Berlin haben nach unserer Erkenntnis auch praktische Erwägungen eine Rolle gespielt. Hierzu zählen vor allem die liberale Aufnahmepolitik der achtziger Jahre und die Nähe zu Polen. Wir haben auch wiederholt gehört, dass Polen West-Berlin bevorzugten, da sie aufgrund des Besatzungsstatuts die Stadt eher als einen amerikanischen Vorposten ansahen denn als deutsche Stadt. Vor den achtziger Jahren schien Westdeutschland kein bevorzugtes Ziel polnischer Emigranten gewesen zu sein; Wunschziele waren eher die Länder der West-Alliierten, allen voran die USA. Hier spielten vor allem polnische Erfahrungen mit dem deutschen Nachbarn eine Rolle. Nach Aussagen vieler Polen, die bereits Anfang der achtziger Jahre nach Berlin kamen, schwanden die Vorurteile jedoch mit der freundlichen Aufnahme der ersten Migranten und der Unterstützung Polens, zum Beispiel auch durch die Paketverschickungen nach der Verhängung des Kriegsrechts.vTrotzdem versuchten und versuchen viele nach Deutschland emigrierte Polen in eines der klassischen Einwanderungsländer weiterzuwandem, nicht zuletzt wegen ihrer negativen Erfahrungen in den späten achtziger Jahren.
Die Begründungen vieler Polen für ihre Emigration haben oft den Charakter einer Rechtfertigung oder erwecken den Eindruck eines "schlechten Gewissens". Verständlich wird dies vor dem Hintergrund der Haltung, die Ex-Regierung, Opposition und Kirche in Polen zu diesem Phänomen einnahmen und einnehmen.
Der Ex-Regierung der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) konnte die Emigration aus vielerlei Gründen nicht genehm sein. Der Exodus von Tausenden von Facharbeitern, Ärzten, Ingenieuren und Wissenschaftlern stellte nicht nur eine "Abstimmung mit den Füßen" gegen sie dar, sondern auch einen "brain drain", der manche Bereiche der polnischen Wirtschaft heute noch vor große Probleme stellt.19 Dies wurde der Öffentlichkeit jedoch über eine stark nationalistisch geprägte Argumentation vermittelt - besonders in Hinblick auf die Emigration der Aussiedler in die Bundesrepublik. Mit dieser nationalistischen Argumentation versuchte die PVAP eine Stimmung aufzugreifen, die auch latent in Opposition und Bevölkerung anzutreffen ist. Die Emigration wird oft geradezu als ein "Verrat" an Polen angesehen, und es wird angezweifelt, ob es den Emigranten gelingen kann, ihr "Polentum" im Ausland zu bewahren. Hinzu kommt in Polen selbst oft noch der Neid auf die wirtschaftlich Bessergestellten unter den Emigranten, die ihren neuen "Reichtum" im Land zur Schau stel1en.20 Diese Haltungen stellen in der Tat auch nach dem Regierungswechsel von 1989 eine Belastung für manche Emigranten dar.21
Beispielhaft sei hier ein Thesenpapier22 der katholischen Kirche zitiert, das der Gesellschaftliche Rat beim Primas am 15. Februar 1988 veröffentlicht hat:
"Jede Entscheidung, Polen zu verlassen, ist ein besonderes Problem. Treffen muss sie in seinem Gewissen der Mensch, der über das Dilemma nachdenkt: bleiben oder gehen; niemand hat das Recht, für ihn zu entscheiden. Ohne Zweifel gibt es begründete Emigrationsfälle, was nicht bedeutet, dass sie nicht schmerzhaft wären. Die nationale Gemeinschaft hat jedoch das Recht, eine moralische Bewertung der Entscheidung zum Verlassen des Landes vorzunehmen und auch die Aufmerksamkeit auf ihre Konsequenzen für Polen zu richten. Das Schicksal Polens entscheidet sich in Polen. Es ist eine Illusion zu glauben, dass Polen in entscheidender Weise aus dem Ausland auf das Schicksal ihres Vaterlandes Einfluss nehmen könnten Jenes Polen, das die jungen Menschen ersehnen, das die ganze Gesellschaft für sich und für die künftigen Generationen erhofft, kann nicht ohne Schwierigkeiten geschaffen werden, es kann auch nicht an einer anderen Stelle der Welt entstehen" (zitiert nach Pomian/Tabin: 1989 , S. 4f).
Parallel zur Verurteilung der jeweils aktuellen Emigration war Polen jedoch auch, neben Ungarn, das Land des Ostblocks, das von jeher einen engen Kontakt zu seinen Emigranten suchte. Dies bezog sich jedoch in der Regel auf langjährige Emigranten oder deren Kinder, die einen unpolitischen, sentimentalen Kontakt zu ihrer Heimat suchten oder dort Devisen investieren wollten.
Eine solche Haltung hinderte die polnische Regierung lange daran, die Interessen der Emigranten der achtziger Jahre wirkungsvoll gegenüber den Behörden der Bundesrepublik zu vertreten. Pomian/Tabin forderten in ihrer Untersuchung deshalb auch, die Beziehungen zwischen Polen und seinen Emigranten neu zu definieren (Pomian/Tabin: 1989, S. 24). Inzwischen scheint sich jedoch ein Sinneswandel zumindest in der praktischen Politik abzuzeichnen, und das polnische Außenministerium versucht, auch die Interessen der jüngsten Emigration in den Assoziationsverhandlungen mit der EG zu vertreten.
Von den 1.071.331 Polen, die von 1979 bis 1989 in die Bundesrepublik eingereist, zeitweilig hier verblieben sind und von der Statistik erfasst werden, sind nur 39 Prozent - rund 420.000 - nicht wieder nach Polen zurückgekehrt und nur 220.400, das sind 20,6 Prozent, als polnische Staatsangehörige in der alten Bundesrepublik verblieben.
Von 1980 bis 1990 beantragten 121.927 Polen Asyl in der Bundesrepublik, das waren rund ein Zehntel der Eingereisten. Die tatsächliche Zahl der Polen, die in dieser Zeit in die Bundesrepublik und West-Berlin einreisten, dürfte erheblich höher sein. Nach West-Berlin reisten damals viele Polen über den Grenzübergang Berlin-Friedrichstraße ein, der von westlicher Seite nicht kontrolliert werden konnte. Die meisten der so Eingereisten meldeten sich dann nicht, wie gefordert, bei den zuständigen Stellen an. Aber allein aus den Statistiken lässt sich ablesen, dass es sich bei den Wanderungen zwischen Polen und der Bundesrepublik überwiegend um eine Pendel- oder Transitmigration handelte.
Bei den Polen, die nur zeitweilig in der Bundesrepublik verblieben, dürfte der überwiegende Teil den Aufenthalt zum Gelderwerb genutzt haben.23 Aufgrund eines Wechselkurses, nach dem 1981 ein polnischer Arbeiter umgerechnet 40 DM im Monat verdiente, konnte kaum einer der Reisenden den Aufenthalt aus eigener Tasche finanziert haben. Da nur die wenigsten über ein Startkapital verfügten, das ihnen erlaubt hätte, von Anfang an Handel zu treiben, dürfte der größte Teil von ihnen in der Bundesrepublik und West-Berlin schwarz oder ausnahmsweise legal gearbeitet haben (vergleiche auch Opawski: 1989 ).
In West-Berlin entwickelte sich in den achtziger Jahren ein eigener Schwarzarbeitsmarkt mit eigenen Infrastrukturen. Einige dieser Pendelmigranten erlebten im Laufe ihrer Wanderungen eine regelrechte Karriere, indem sie das erarbeitete Geld hier in Waren umsetzten, diese in Polen verkauften und so schließlich allein vom Handel zwischen Deutschland und Polen lebten.24
Die liberalste Einreisepolitik aller westlichen Staaten verfolgte die Bundesrepublik, deren Botschaft in Warschau Anfang 1984 etwa 2.000 Visa täglich erteilte, während zum Beispiel die USA die Visavergabe äußerst restriktiv handhabten. Einen Sonderfall stellte West-Berlin dar. Eine Anordnung der Alliierten Kommandantur gestattete hier Bürgern aus Ostblockstaaten bis Oktober 1990 die visafreie Einreise bis zu 30 Tagen (Berlin-Kommandantura-Order; BK/O [67]7). Die Polen, die in der Bundesrepublik oder West-Berlin verbleiben wollten, fanden Anfang der achtziger Jahre - und besonders nach Verhängung des Kriegsrechts - eine wohlwollende Aufnahme bei den westdeutschen Behörden und Politikern. Ein Beschluss der Bundesinnenministerkonferenz bereits aus dem Jahr 1966 besagte, dass Angehörige von Ostblockstaaten nicht abgeschoben werden, selbst wenn sie keine Asylanträge stellen oder die gestellten negativ beschieden werden.
Diese auf den ersten Blick für die eingereisten Polen positive Regelung besaß jedoch auch einen Pferdefuß: Viele Polen, die damals vielleicht sogar Asyl erhalten hätten – noch 1985 lag die Anerkennungsquote bei 23 Prozent - stellten erst gar keinen Asylantrag oder verfolgten ihr Verfahren nach der ersten Ablehnung nicht weiter. Dies hatte für sie kurzfristig Vorteile insofern, als sie nicht dem Arbeitsverbot für Asylbewerber unterlagen. Langfristig jedoch wäre für sie der Status eines Asylberechtigten, sofern sie ihn erhalten hätten, mit weitaus mehr Sicherheit und Rechten verbunden gewesen als die statt dessen meist erteilte Duldung.
In West~Berlin hatte es wegen des visafreien Reiseverkehrs vor Verhängung des Kriegsrechts bereits Kontroversen um eine "Polenflut", polnische Asylbewerber und die Schwarzarbeit polnischer Touristen gegeben.25 Nach dem 13. Dezember 1981 wurden die "polnischen Gäste" jedoch von einer breiten Welle der Sympathie getragen. Ein zweisprachiges Flugblatt des damaligen West-Berliner Senators Ulf Fink (CDU) zum Beispiel hieß die "liebe(n) polnische(n) Gäste" in der Stadt willkommen: "Ob als Gast oder auf Dauer als Mitbürger - Sie sollen sich in unserer Stadt zurechtfinden und wohl fühlen " (Der Senator für Gesundheit Soziales und Familie, Referat Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Berlin 1982).
Mit den Liberalisierungen der polnischen Passgesetze, einer steigenden Zahl von Polen, die in Westdeutschland einen Aufenthalt suchten und einer zunehmenden "Normalisierung" der politischen Situation in Polen verschlechterten sich die Aufnahmebedingungen. Ab 1. Januar 1984 galt eine Neufassung des Bundessozialhilfegesetzes. Bis dahin erhielten Polen höhere Leistungen als Asylbewerber aus anderen Ländern. Laut Beschluss der Innenministerkonferenz vom April 1985 waren auch Bürger aus Ostblockstaaten fortan gezwungen, einen Asylantrag zu stellen, wenn sie in Westdeutschland verbleiben wollten. Nach Ablehnung des Asylantrages sollten sie zwar weiterhin nicht abgeschoben werden und eine Duldung erhalten. Der Zwang zum Asylantrag bedeutete jedoch, dass auch Polen Abschreckungsmaßnahmen des Asylverfahrens unterlagen, die sie bisher umgehen konnten, wenn sie besagte Duldung sofort beantragten. Nach dem Ausländerrecht bedeutete jene Duldung keineswegs die Legalisierung ihres Aufenthaltes, sondern nur die jeweilige Aussetzung der Abschiebung, aus der sich kein Vertrauenstatbestand ableiten ließ. Andererseits war in dem Beschluss auch die ausdrückliche Möglichkeit der Legalisierung des Aufenthalts vorgesehen. Nach zweijährigem Aufenthalt sollte eine befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn kein Sozialhilfebezug vorlag.
Somit wurden auch Polen von den am 12. November 1986 vom Bundestag beschlossenen Änderungen des Asylverfahrensgesetzes betroffen. Hierzu zahlten die zwangsweise Unterbringung in Sammelunterkünften und ein einjähriges Arbeitsverbot. Im April 1987 beschloss die Innenministerkonferenz, dass ab 1. Mai 1987 Polen und Ungarn nunmehr in ihre Heimatländer abgeschoben werden können, wenn ihr Asylantrag abgelehnt wurde oder ihr Visum abgelaufen war. Wenn Polen oder Ungarn aber nachweisen konnten, dass sie in der Lage seien, ihren Lebensunterhalt ohne Sozialhilfe zu bestreiten, so könne ihnen eine befristete Duldung für längstens ein Jahr ausgestellt werden. Diese Beschlüsse wurden jedoch in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich gehandhabt. Die Frage der Abschiebung wurde in Baden-Württemberg, Hessen und Rheinland-Pfalz nicht geregelt, in Nordrhein-Westfalen und Hamburg sollte abgeschoben werden, ebenso in Bayern — hier aber nur mit Zustimmung des Innenministeriums.26 Der Berliner Innensenator Kewenig (CDU) hatte sich sogar dafür eingesetzt, dass Polen nicht mehr ins Asylverfahren gezwungen werden sollten, sondern auch in Zukunft grundsätzlich eine, wenn auch befristete, Duldung erhalten sollten.27 In West-Berlin wurden dann auch die liberalsten Regelungen erlassen. Die Tatsache, dass Polen oft gezwungen waren, Asyl zu beantragen, wenn sie sich legal in der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin aufhalten wollten, leistete ihrer Ansiedlung auf Dauer insofern Vorschub, als ihnen für die Dauer des Verfahrens nicht gestattet war, nach Polen zu reisen. Das Asylverfahren erzeugte so in manchen Fallen erst eine Entfremdung vom Herkunftsland und die Entscheidung zum dauerhaften Verbleib.
Auslöser für die Verschärfung der Aufnahmebedingungen war die drastisch steigende Zahl der zuwandernden Polen in den Jahren 1988 und vor allem nach 1989, als Polen seine Grenzen de facto für alle seine Bürger öffnete (vergleiche Anhang). Unter den Migranten waren ab 1988 viele Frauen und Familien, die nunmehr erst die Möglichkeit zur Ausreise mit Kindern zu ihren Männern erhielten. Am 29. April 1988 beschloss die Innenministerkonferenz, die Sonderregelungen für Polen endgültig aufzuheben, und bekräftigte diesen Beschluss noch einmal am 14. April 1989. Nach einer Stellungnahme, die das Bundesinnenministerium am 29. Mai 1989 abgab, hatte dies bedeutet, dass in Zukunft Polen nach negativ abgeschlossenem Asylverfahren grundsätzlich abgeschoben werden. Für die bereits im Bundesgebiet lebenden Polen schlug das Innenministerium vor, dass sie bleiben konnten, wenn
Gegen diese Politik regte sich Widerstand. In Berlin zum Beispiel protestierten polnische Organisationen und der Diözesanrat der katholischen Kirche gegen die beabsichtigten Abschiebungen. Hauptargumentationslinie der Proteste war dabei, dass den Polen auch wenn sie zuerst nur eine Duldung erhalten hatten - der Daueraufenthalt in der Bundesrepublik in Aussicht gestellt worden war und sie sich auf einen Vertrauenstatbestand stützen können. Ein Rechtsgutachten der Universität Hannover kam im Juli 1990 zu dem gleichen Schluss und führt weiter aus: "Die bisherige Erlasslage und die Verwaltungspraxis der Anwendung des Duldungsinstrumentes sind gesetzwidrig. ... Es hätten vielmehr Aufenthaltserlaubnisse erteilt werden müssen" (Folz/Kremer: 1990 , S. 17).
In Berlin kam es aufgrund der Proteste zu einer Regelung, nach der polnische Staatsangehörige, die vor dem 1. Dezember 1989 eingereist waren, eine Aufenthaltserlaubnis erhalten sollten. In anderen Bundesländern kam es nach der Intervention unter anderem von Wohlfahrtsverbänden teilweise auch zu einer Revision der betreffenden Verwaltungsvorschriften. Es kam aber auch zu Abschiebungen von Polen, die sich bereits seit langem in der Bundesrepublik aufhielten. Schätzungen liegen bei einigen tausend oder gar zehntausend Ausgewiesenen und Abgeschobenen.
Der Großteil der Migranten der achtziger Jahre lebt nach dem neuen Ausländergesetz mit einer "Aufenthaltsbefugnis", die erst nach acht Jahren legalem Aufenthalt in eine Aufenthaltserlaubnis umgewandelt werden kann. Ihr aufenthaltsrechtlicher Status ist somit bedeutend schlechter als zum Beispiel der der Arbeitsmigranten aus der Türkei, besonders im Hinblick auf den Familiennachzug. Weitaus schwerer als der mindere Aufenthaltsstatus wiegen für sie jedoch die arbeitsrechtlichen Beschränkungen, die ihnen oft heute noch die Aufnahme einer legalen Beschäftigung erschweren oder unmöglich machen. Aus Berlin sind zahlreiche Fälle bekannt, in denen polnische Staatsangehörige zwar nicht ausgewiesen wurden, aber nach langjährigem Aufenthalt "aufgaben", weil sie nicht legal arbeiten durften und ihnen die Sozialhilfe verweigert wurde. Die Zahl der somit "auf kaltem Wege Abgeschobenen" wird durch Statistiken nicht erfasst. Inzwischen werden polnische Asylbewerber nach Ablehnung des Asylantrages abgeschoben. Mancherorts wird sogar verfassungswidrig die Annahme ihrer Asylanträge abgelehnt. Außer dem Familiennachzug gibt es auch keine Möglichkeit mehr für Polen, einen Daueraufenthalt in der Bundesrepublik zu begründen. Die Zahl der Asylbewerber ging daraufhin drastisch zurück.
Für die bis 1987 und in Berlin auch danach noch liberale Aufnahmepolitik für Polen dürften neben der Sympathie für "Flüchtlinge" aus Ostblockstaaten und der Rücksichtnahme auf die gemeinsame Geschichte zwei weitere Faktoren eine Rolle gespielt haben.
"Ausgeweitet haben sich dadurch halb- bis illegale Beschäftigungsformen im Baubereich. Denn oft wurden nur Teile der Stammbelegschaften nach Berlin »exportiert« und der Rest der Arbeit durch billige Arbeitskräfte unter Umgehung tariflicher und arbeitsrechtlicher Bestimmungen erledigt. Die entstandenen Dumpingpreise waren oft nur durch unqualifizierte und illegale Beschäftigungsverhältnisse aufzufangen" (vergleiche Henschel: 1990 ).Inwieweit ein "arbeitsß und bevölkerungspolitisches Interesse" in anderen Bundesländern eine Rolle bei der Aufenthaltspolitik spielte, kann hier nicht geklärt werden. Aus den wiederholten Forderungen nach einer erleichterten Arbeitsaufnahme für Polen kann ein solches Interesse jedoch vermutet werden.33
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Bundesrepublik in den achtziger Jahren gegenüber polnischen Staatsangehörigen de facto eine Einwanderungspolitik betrieb, die einem Sieb glich. Polnische Staatsangehörige konnten bis 1987 auf Verwaltungsvorschriften vertrauen, die ihnen auf Wunsch die Möglichkeit zu einem Daueraufenthalt eröffneten, falls sie nicht sogleich als Asylberechtigte anerkannt wurden. Auf dem Wege zu diesem Daueraufenthalt erhielten fast alle besagte Duldung, die ihren Aufenthalt aber noch nicht legalisierte. Diese Praxis "contra oder bestenfalls prater legem" (Folz/Kremer: 1990 , S. 32) verhinderte jedoch bei den meisten eine Verfestigung ihres Aufenthaltes. Im Sieb sollten nur diejenigen hängenbleiben, denen es gelang, eine Arbeitserlaubnis zu bekommen - also Polen mit gesuchter Qualifikation oder Glück; diejenigen, die dem Staat nicht etwa durch Sozialhilfebezug zur Last fielen. Sie konnten nach zwei Jahren eine Aufenthaltserlaubnis erhalten. Bis zur Öffnung der Berliner Mauer konnten die anderen ebenfalls im Lande bleiben, selbst wenn den Behörden bekannt sein musste, dass sie ihren Lebensunterhalt oft weder durch Sozialhilfe noch durch legale Arbeit finanzieren konnten. Danach sollte etwa die Hälfte der Zuwanderer wieder ausgewiesen oder abgeschoben werden. "Die Besten unter den Ostblockflüchtlingen dürfen bleiben, die Schwachen sollen gehen" (Folz/Kremer: 1990 , S. .4). Anders als bei klassischen Einwanderungsländern, die eine Selektion vor der Einreise vornehmen, sollte diese in der Bundesrepublik selbst stattfinden. Dies unterblieb aufgrund von Protesten, verfassungsrechtlichen Bedenken und wohl auch der Furcht vor außenpolitischen Verwerfungen, die die Ausweisung von einigen zehntausend Polen aus dem wiedervereinigten Deutschland hervorgerufen hätte. Der Großteil der zugewanderten Polen konnte bleiben, jedoch nur mit dem minderen Status einer Aufenthaltsbefugnis und unter großen arbeitsrechtlichen Beschränkungen. Eine weitere (halb-)legale Einwanderung von Polen ist durch das neue Ausländergesetz und die Verwaltungspraxis gestoppt worden.
Da mir keine Untersuchungen oder Statistiken zu diesem Thema bekannt sind, muss ich mich hier im wesentlichen auf die Erkenntnisse und Erfahrungen aus der Arbeit unseres Vereins stützen. Diese sind insofern nicht zu verallgemeinern, als West-Berlin zeitweise die einzige westeuropäische Region war, die für Polen ohne Visum zugänglich war. Daraus ergab sich eine Konzentration der Probleme in der Stadt. Nach unseren Erfahrungsaustauschen mit anderen Personen in Westdeutschland, die in der Sozialarbeit für Polen tätig sind, oder mit Polen sind dort aber ähnliche Phänomene beobachtet worden. Dies zu verifizieren und zu quantifizieren bliebe Aufgabe zukünftiger Forschung.
Nach unseren Erfahrungen wird die soziale Lage der polnischen Immigranten im wesentlichen durch ihre aufenthaltsrechtliche und stärker noch durch die arbeitsrechtliche Situation geprägt. Uns sind Fälle bekannt, in denen Polen mehrmals hintereinander die Erteilung einer Arbeitserlaubnis verweigert wurde. Diese zu bekommen fällt ihnen auch deswegen schwer, weil ihre polnischen Berufsabschlüsse in der Regel in Deutschland nicht anerkannt werden – im Gegensatz zu denen der Aussiedler. Es sind Fälle vorgekommen, in denen denen äquivalente Berufsabschlüsse, die an derselben Bildungseinrichtung erworben wurden, in dem einen Fall (Aussiedler) anerkannt wurden und in dem anderen ("nur" Pole) nicht. Da die zugewanderten Polen somit keinen anerkannten Beruf besitzen, können sie sich nur auf unqualifizierte Stellen bewerben. In diesem Segment des Arbeitsmarktes finden sich jedoch in den Karteien der Arbeitsämter stets arbeitslos gemeldete Deutsche, die vermittelt werden müssten, bevor ein Pole diese Stelle erhalten darf. In der Praxis können viele offene Stellen jedoch nicht mit den bei den Arbeitsämtern registrierten Deutschen besetzt werden.
Die Migranten der achtziger Jahre, die sich ohne die Hilfe des Arbeitsamtes einen Arbeitsplatz suchen, geraten so in eine realiter nur auf dem Papier existierende Konkurrenz nach Paragraph 19 des Arbeitsförderungsgesetzes mit anderen bevorrechtigten, aber kaum vermittelbaren deutschen Arbeitslosen. Besonders bitter stimmt die Betroffenen dabei, dass inzwischen wieder polnische Saisonarbeitskräfte und Werkvertragsarbeitnehmer angeworben werden. In manchen Fällen fühlen sich die hier lebenden Polen regelrecht verhöhnt, wenn ihnen das Arbeitsamt die Arbeitserlaubnis verweigert, weil der Arbeitgeber sie mit zum Beispiel nur zwölf DM brutto pro Stunde unter Tarif entlohnen will. Dann gibt das Arbeitsamt vor, dies aus tarifpolitischen Gründen nicht zulassen zu können. Zur gleichen Zeit arbeiten nicht-ortsansässige Polen in der Stadt legal mit Kenntnis des Arbeitsamtes, das in diesen Fällen die Einhaltung von Tariflöhnen nicht kontrollieren kann. Und falls jemand trotz alledem die Arbeitserlaubnis erhält, so wird diese erstmalig nur für eine bestimmte Tätigkeit in einem bestimmten Betrieb erteilt. Der polnische Arbeitnehmer ist somit in hohem Maße von seinem Arbeitgeber abhängig.
Uns sind auch einige Fälle bekannt, in denen in Berlin lebende Polen in kleinen oder mittleren Betrieben schwarz beschäftigt werden, wo die Arbeitgeber aber jederzeit bereit wären, diese auch legal zu beschäftigen. Da ein Antrag auf eine Arbeitserlaubnis jedoch aussichtslos erscheint, wird darauf verzichtet - auch aus Angst vor anschliessenden Kontrollen der Gewerbeämter. Da die Aufnahme der polnischen Migranten durch die hiesigen Behörden im Laufe der achtziger Jahre immer restriktiver wurde, gehen wir davon aus, dass die Mehrzahl der Migranten, die nach 1985 in die Stadt kamen, und der überwiegende Teil derjenigen, die nach 1987 kamen, bis heute in ungesicherten sozialen Verhältnissen leben.
Erst nach sechsjährigem Aufenthalt haben die Migranten Anspruch auf eine Arbeitserlaubnis.34 Nach dem Fall der Mauer und mit der Konkurrenz der Arbeitssuchenden aus den neuen Bundesländern haben sich die Chancen der Polen noch weiter verschlechtert.
Eine Verbesserung der arbeitsrechtlichen Situation könnte das im Dezember 1991 geschlossene Assoziierungsabkommen zwischen Polen, Ungarn, der CSFR und der EG bewirken. Sofern dieses Abkommen - wahrscheinlich bis 1993 - von Deutschland ratifiziert wird, verpflichtet es sich in Artikel 42, Satz 3: "The Member States will examine the possibility of granting work permits to Polish nationals already having residence permits in the Member State.".35 Das Ergebnis dieser vereinbarten Prüfung bleibt jedoch abzuwarten.
Besonders die Verweigerung der Arbeitserlaubnis - die Unmöglichkeit, den Lebensunterhalt auf legale Art zu verdienen - treibt viele in eine Grauzone aus Schwarzarbeit und Prostitution, in Lebensumstände, die vielen Deutschen so nicht vorstellbar scheinen.
Hier einige Fallbeispiele aus unserer Arbeit:36
Nach unseren Erfahrungen kommen Polen nach Unfällen bei der Schwarzarbeit selten ins Krankenhaus. Wenn möglich, versuchen sie dies zu vermeiden - die Registrierung ihrer Personalien könnte bedeuten, dass sie als Schwarzarbeiter erfasst und abgeschoben werden. Uns wurde von einem Mann berichtet, der bei der Schwarzarbeit im Straßenbau mit Teer übergossen wurde und dabei schwere Verbrennungen erlitt. Als ein Rettungswagen eintraf, versuchte der Mann trotz seiner Verletzungen zu fliehen.
Es bleibt anzumerken, dass der Berliner Senat sich vor der Vereinigung mehrfach um eine erleichterte Erteilung der Arbeitserlaubnis an Polen bemüht hatte, was jedoch am Widerstand der Bundesanstalt für Arbeit scheiterte. Als Erleichterung für die polnischen Migranten wurde vom Berliner Senat eine Regelung eingeführt, nach der sie nach zweijährigem Aufenthalt eine selbständige Erwerbstätigkeit ausüben können. Das hat zu der paradoxen Situation geführt, dass viele Polen in Berlin nicht abhängig beschäftigt sein dürfen, aber ohne weiteres selbst als Arbeitgeber tätig werden können. Aufgrund dieser Regelung haben viele Polen in Berlin ein Kleingewerbe eröffnet. Mangels Startkapital, Know-how und fehlender Anerkennung ihrer Berufsabschlüsse können viele damit allein aber kaum ihre Existenz sichern. Viele von ihnen haben auch Probleme, eine Krankenversicherung zu bekommen, da die meisten Krankenkassen sich weigern, sie als Selbständige zu versichern. Private Krankenkassen, die dazu bereit wären, verlangen horrende Tarife, die sie sich nicht leisten können.
Trotz ihrer schlechten sozialen Lage schließen viele jedoch eine Rückkehr für sich aus. Ihre Existenz in Polen haben sie aufgegeben, und meist konnten sie auch hier nicht genug Kapital ansammeln, um sich dort nach einer Rückkehr eine neue schaffen zu können. Mit zunehmender Dauer ihres Aufenthaltes entfremden sie sich auch zusehends von ihrem Herkunftsland, in dem in den letzten Jahren drastische Veränderungen stattfinden. Zudem wäre eine Rückkehr ohne Vermögen das Eingeständnis eines Scheiterns.
Viele scheinen auch auf eine Weiterwanderung zu hoffen. Als wir 1989 30 Polen befragten, hofften immerhin noch acht von ihnen, nach Kanada oder in die USA weiterwandern zu können. Beide Länder nehmen jedoch kaum noch Polen auf. Und als wir im gleichen Jahr in Zusammenarbeit mit einem Vertreter des ANC eine Veranstaltung zur Situation in Südafrika durchführten, erschienen 40 Menschen, die sich mehr für die dortigen Einwanderungsbestimmungen interessierten. Einer der potentiellen Weiterwanderer schilderte uns, dass er sich in Berlin wie in einer Falle fühle, aus der es kein Vor und kein Zurück gebe.
Die schlechte soziale Lage vieler Migranten schließt natürlich Gegenbeispiele nicht aus. Das Spektrum zum Beispiel der in Berlin lebenden Polen reicht vom Professor und Chefarzt polnischer Abstammung über den in den achtziger Jahren zugewanderten, international renommierten und erfolgreichen Regisseur und Bildhauer Andrzej Woron bis hin zum illegalen Autodieb.
Im Vergleich zu dem Geschilderten ist jedoch bemerkenswert, dass die in Berlin lebenden Polen nicht unverhältnismäßig an Straftaten beteiligt sind.37 Um zu überleben, so Betroffene, bleibe ihnen jedoch nichts, als sich ständig unter Wert zu verkaufen.
Die in den achtziger Jahren anerkannten Asylbewerber aus Polen haben aufgrund ihres Status keinerlei rechtliche Probleme. Der einzige gravierende Nachteil für die "Asylberechtigten" besteht darin, dass sie Gefahr laufen, ihren Status zu verlieren, wenn sie in ihr Heimatland reisen. Der Status des Asylberechtigten kann inzwischen jedoch auch allein aufgrund der Demokratisierung in Polen durchaus abgesprochen werden. Dass dies kaum geschieht, beruht nach Auskunft eines Mitarbeiters des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vor allem auf der Überlastung der Behörde mit 250.000 unerledigten Asylanträgen. Die Aberkennung des Asylstatus erfordert ein aufwendiges Verwaltungsverfahren, für das derzeit die Kapazitäten fehlen, um es in großem Ausmaß auf Osteuropaflüchtlinge anzuwenden. Es würde in den meisten Fällen den Aufwand auch nicht lohnen, da sich für die Betroffenen aufenthaltsrechtlich kaum etwas ändern würde. Auf Anregung der Innenbehörden wird dieses Verfahren jedoch vereinzelt eingeleitet, zum Beispiel wenn ein straffällig gewordener Asylberechtigter sonst nicht abgeschoben werden könnte oder bei Fällen, in denen Asylberechtigte heiraten und eine Bevorrechtigung beim Familiennachzug bestünde.
Diese arbeiten in Deutschland für polnische Firmen, die von deutscher Seite mit der Realisierung konkreter Projekte - meist Bauvorhaben - beauftragt worden sind. Ihr Aufenthalt ist meist auf die Zeit bis zur Fertigstellung des Projektes beschränkt. Zahlreiche Projekte dieser Art - zum Beispiel der Bau von Kraftwerken - wurden in der Vergangenheit zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen vereinbart. Die polnischen Arbeitnehmer wurden dabei in der Regel in Sammelunterkünften untergebracht. Nach Beendigung des Projektes kehrten sie, ohne engen Kontakt zur Bevölkerung gehabt zu haben, wieder zurück.
Bereits vor der Wiedervereinigung wurden polnische Firmen auch mit Projekten in der alten Bundesrepublik beauftragt. Nach einem Abkommen, das im Mai 1990 zwischen den Arbeitsministerien beider Länder geschlossen wurde38, wurde vereinbart, dass die neue Bundesrepublik im wesentlichen Werkvertragsarbeitnehmer in gleicher Anzahl beschäftigen wird, wie es in den Verträgen mit der DDR noch vereinbart worden war39. Hier finden sich zum Beispiel auch Regelungen für Werkvertragsarbeiter in der Bundesrepublik, die bei einer wiederholten Beschäftigung das Land pro Jahr für eine "Karenzzeit" von drei Monaten verlassen müssen. Die zugrunde liegenden Regelungen traten im Dezember 1990 in Kraft.
Damit begeht die deutsche Ausländerpolitik ein höchst fragwürdiges Jubiläum, denn genau 100 Jahre vorher, im Dezember 1890, wurden im Kaiserreich Regelungen für die Beschäftigung von Auslandspolen getroffen, die den heutigen zum Teil auf frappierende Weise gleichen. Es drängt sich fast die Vermutung auf, dass bestimmte Regelungen aus der Kaiserzeit geradezu kopiert worden sind40. Die Bestimmungen dieses Abkommens sehen vor, dass die Werkvertragsarbeitnehmer nach deutschem Arbeits- und Tarifrecht beschäftigt werden sollen. Nach unseren Informationen scheint dies oft nicht der Fall zu sein. Angesichts der Praktiken in der Branche und der Haltung Bonns warfen deutsche Staatsanwälte der Regierung unlängst vor, "Bundesregierung und Bundesanstalt für Arbeit duldeten, ja förderten sogar die illegale Leiharbeit von Ausländern mit all ihren Auswüchsen".41
Hier eine Auswahl der Problembereiche:
"Selbst Bauträger und Privatleute reklamieren die zum Teil menschenunwürdigen Bedingungen, unter denen - mit Genehmigung der Bundesanstalt für Arbeit- Werkvertragsfirmen beschäftigt werden." So beschreibt sogar ein Landesarbeitsamt die Situation und spricht von "Ausbeutung" (siehe Anmerkung (siehe Anmerkung 41). Beispielhaft für die Praktiken in diesem Bereich seien hier Auszüge aus einem Gesprächsprotokoll unseres Vereins zitiert:
"Am Donnerstag Abend 27.02.92 erschienen vier polnische Werkvertragsarbeitnehmer in unserem Büro. Sie kamen aufgrund der Vermittlung einer deutschen Kollegin, zu der sie Vertrauen gewonnen hatten und die sich für sie einsetzte. Aus Angst, entlassen zu werden, verhalten sie sich auf der Baustelle so, als ob sie die Kollegin nicht näher kennen würden. Anonymität wurde zugesichert. Sie arbeiten seit einem halben Jahr für die polnische Firma A. in Berlin. Dies sei ungewöhnlich lange, denn die anderen polnischen Arbeiter auf der Baustelle würden meist bereits nach wenigen Wochen wieder zurückkehren. Als sie vor einem halben Jahr nach Berlin gekommen seien, hätten sie die ersten beiden Wochen ohne Arbeitserlaubnis und Aufenthaltsbewilligung gearbeitet. Dies sei ihnen vom polnischen Vorarbeiter als normal geschildert worden. Inzwischen besitzen sie eine Arbeitserlaubnis für ein Jahr. Ihr Vertrag mit der polnischen Firma hätte jedoch erst über zwei Wochen gelautet, sei dann um vier Wochen verlängert worden und .schließlich jeweils um drei Monate. Sie arbeiten acht-einhalb Stunden am Tag, das sind 42 Stunden pro Woche. Und zwar mit dem Argument, dass in Polen jeder zweite Samstag Arbeitstag sei. Als Lohn erhalten sie 720 DM netto monatlich plus 180 DM "Wohlverhaltensprämie" plus 8,50 DM tägliches Verzehrgeld. Trotz der schlechten Entlohnung seien sie auf die Arbeit angewiesen. In Polen wären sie arbeitslos bei rund 100 DM Arbeitslosengeld pro Monat. Einer der vier berichtete, dass er im letzten Jahr in Bremen als Werkvertragsarbeitnehmer gearbeitet habe und dabei 1700 DM monatlich verdient hätte. Bauträger des Projekts ist die deutsche Firma B. Diese hat einen Vertrag mit der Firma C. aus Warschau. Die Firma C. aus Warschau hat den Vertrag wiederum an die Firma A. aus Westpolen weiter vermittelt. Die Arbeiter werden von C. beschäftigt. Einer der Arbeiter hatte in den ersten zwei Wochen — als er noch keine Arbeitserlaubnis und Aufenthaltsbewilligung besaß - einen Arbeitsunfall. Er hatte sich mit der Stichsäge tief in den Finger geschnitten. Der polnische Vorarbeiter wies ihn daraufhin an, den Finger nur zu verbinden und für heute nach Hause zu gehen. Der deutsche Meister habe dann aber darauf bestanden, einen Krankenwagen zu holen. In einem Krankenhaus in Ost·Berlin sei dann die Wunde nur gereinigt und verbunden worden. Der Mann sei an schließend zur Behandlung nach Hause gefahren, weil ihm wegen der fehlenden Aufenthaltsbewilligung und Arbeitserlaubnis doch nicht wohl gewesen sei. Er habe eine Woche lang nicht arbeiten können, und nach nunmehr drei Monaten sei der Finger immer noch steif und bewegungsunfähig. Er habe keinerlei Krankengeld oder Lohnfortzahlung erhalten, werde aber - sozusagen als Ausgleich - weiter beschäftigt. Andere, die sich krank gemeldet hätten, seien vom polnischen Vorarbeiter entlassen worden. Inzwischen habe er vom Krankenhaus eine Rechnung über 150 DM erhalten.
Dieses Thema sperrt sich jedoch der Aufarbeitung. Mögen die Konditionen für die polnischen Arbeitnehmer auch noch so schlecht sein, so sind sie immer noch besser als in Polen selbst. Aus Angst, ihre Beschäftigung zu verlieren, weigern sich die Werkvertragsarbeitnehmer unserer Erfahrung nach, ihre Situation öffentlich zu machen. Aber auch mangelnde Sprachkenntnisse und Unkenntnis ihrer Möglichkeiten hindern sie an der Durchsetzung besserer Bedingungen. Das größte Problem ist jedoch das System des Subunternehmertums, da sich die tatsächlichen Beschäftigungsbedingungen so kaum mehr erfassen lassen. Zudem haben die Werkvertragsarbeitnehmer wegen ihrer gesonderten Beschäftigung und auch wechselseitigen Vorurteilen kaum Kontakt zu deutschen Kollegen. Hier wäre es Aufgabe der deutschen Gewerkschaften, auch auf diese Menschen zu zugehen.
Polnische Arbeitnehmer werden seit Februar 1991 auch, wie bereits im 19. Jahrhundert, als Saisonarbeitskräfte für kurzfristige Arbeitsaufenthalte bei deutschen Arbeitgebern legal beschäftigt. Anders als bei den Werkvertragsarbeitnehmern können Saisonarbeiter auch direkt von deutschen Arbeitgebern beschäftigt werden. Außerdem dürfen sie nur maximal drei Monate pro Jahr in der Bundesrepublik arbeiten und müssen dann wieder ausreisen. Für den Rest des Jahres erhalten sie weder eine Arbeits- noch eine Aufenthaltserlaubnis.42
Nach den mit Polen, Ungarn, Jugoslawien und der Tschechoslowakei geschlossenen Abkommen werden somit zum ersten Mal seit dem Anwerbestopp im Jahre 1973 in großem Umfang »Gastarbeiter« angeworben. So zum Beispiel in der Landwirtschaft und in Feriengebieten während der Hochsaison. Allerdings ist die »Saisonarbeit« nicht nur auf die Branchen beschränkt, in denen wirklich nur ein saisonaler Arbeitskräftebedarf herrscht. Ein großer Teil der so angeworbenen Arbeitskräfte wird zum Beispiel auch in der Bauindustrie beschäftigt. Die Arbeitserlaubnis für diese Tätigkeiten werden entweder in Zusammenarbeit mit dem polnischen Arbeitsministerium erteilt (1991 3 Prozent), wobei dieses die Bewerber nach besonderen Kriterien (soziale Notlage, lange Arbeitslosigkeit) auswählt, oder nach hiesigen Erfordernissen direkt von einer Zentralstelle der Bundesanstalt für Arbeit (1991 97 Prozent). Die Zahl dieser Saisonarbeitskräfte ist nach oben hin nicht begrenzt. Circa 100.000 Arbeitskräfte aus ganz Osteuropa sollen auf diese Weise 1991 vermittelt worden sein43. Von Februar bis Juli 1991 wurden über 97 Prozent der Saisonarbeiter namentlich von den Arbeitgebern bei der Frankfurter Zentralstelle angefordert, ein Indiz dafür, dass die Angeforderten den Arbeitgebern bereits aus früherer Schwarzarbeit bekannt sind.44
Laut Schätzung der Arbeitsministerien beider Länder hielten sich 1990 zwischen 600.000 und einer Million polnischer Schwarzarbeiter in der alten Bundesrepublik auf, nach anderen Schätzungen davon 40.000 bis 50.000 in Berlin45. Frühere Versuche, diese Schwarzarbeit zum Beispiel mit der Überwachung der Felder vom Hubschrauber aus zu unterbinden, sind an Protesten, zum Beispiel des Bayrischen Bauemverbandes, gescheitert. Der Anbau arbeitsintensiver Kulturen der Landwirtschaft ist ohne den Einsatz osteuropäischer Saisonhelfer nicht mehr zu bewältigen46. Neben den Werkvertrags- und Saisonarbeitnehmern ist zwischen Polen und Deutschland im Juni 1990 die wechselseitige Möglichkeit der Beschäftigung von jährlich 1000 "Gastarbeitern" vereinbart worden.47
Die Vorteile der bundesrepublikanischen Wirtschaft und Politik bei den Regelungen für Werkvertrags- und Saisonarbeiter formuliert ein Mitarbeiter des Bundesarbeitsamts wie folgt: "Sie helfen, einen regionalen und sektoralen Arbeitskräftebedarf, insbesondere an Facharbeitern, zu beheben, ohne die Probleme einer nur noch sehr begrenzt oder nicht mehr vorhandenen Aufnahmekapazität in die politische Diskussion zu rücken" (Heyden: 1991, S. 7).
Neben der Legalisierung - zumindest eines Teils - der bisherigen Schwarzarbeit haben diese Regelungen für die Saisonarbeiter den Vorteil, dass die Arbeitgeber sich, zumindest auf dem Papier, verpflichten müssen Tariflöhne zu zahlen und Unterkünfte zu stellen. Grundsätzlich wird von uns die Beschäftigung der Arbeitnehmer direkt bei einem deutschen Arbeitgeber auch positiver eingeschätzt als Subunternehmerverhältnisse mit polnischen Arbeitgebern. Besonders in den neuen Bundesländern und Berlin ist von einer zukünftigen erheblichen Ausweitung der Beschäftigung polnischer Arbeitnehmer auszugehen. Angesichts zahlreicher Bauvorhaben, die hier zu bewältigen sein werden, und des bereits jetzt akuten Mangels an Fachkräften, wird die Beschäftigung ausländischer Arbeiter unumgänglich sein. Im Hinblick auf die soziale Situation und den militanten Rassismus in der ehemaligen DDR scheint mir eine öffentliche Diskussion und - auch und besonders für die Arbeitskräfte - sozial verträgliche Regelung des Phänomens dringend notwendig.48
Außer den Fällen, in denen ein zeitweiliger Touristenaufenthalt zur Schwarzarbeit genutzt wird, sind uns in Berlin noch Fälle berichtet worden, in denen Polen ihren Lebensmittelpunkt in Berlin hatten, ohne hier gemeldet zu sein oder einen Aufenthaltsstatus zu besitzen. Dabei handelt es sich teilweise um Personen, die bereits einmal hier gemeldet waren, denen der weitere Aufenthalt versagt wurde und die trotzdem nicht nach Polen zurückkehrten. In einem Fall lebte eine Familie mit Kind in einer eigenen Wohnung, während der Mann eine florierende "schwarze" Autowerkstatt betrieb. Bemerkenswert an diesem Leben eigentlich "bürgerlichen" Zuschnitts war nur, dass allein der Aufenthalt der Familie bereits illegal war. Schließlich kehrte diese Familie nach Polen zurück, weil die Frau die seelische Belastung der Illegalität nicht mehr ertragen konnte. Darüber hinaus sind uns noch weitere Fälle berichtet worden, in denen die Menschen "untertauchten", sobald ihnen der Aufenthalt entzogen wurde.
Bei der zweiten Gruppe handelt es sich um Menschen, die anfangs ihren Lebensmittelpunkt in Polen behalten wollten. Sie kamen zu Arbeitszwecken nach Berlin und dehnten schließlich ihre Aufenthalte immer weiter aus, bis sie schließlich auch ihre Verbindungen nach Polen teilweise lösten. Sie haben sich oft nicht um einen legalen Aufenthaltsstatus bemüht. Ihr Leben in der Illegalität vollzieht sich oft unter Bedingungen, die unvorstellbar scheinen. Ein Problem stellen zum Beispiel polnische Jugendliche dar, die sich in Berlin am Bahnhof Zoo prostituieren. Über die Größe beider Gruppen lässt sich keine seriöse Aussage treffen. Wir nehmen jedoch an, dass es sich dabei nicht nur um Einzelfälle handelt, Allerdings vermuten wir auch, dass es sich um ein Phänomen handelt, das im wesentlichen auf das ehemalige West-Berlin beschränkt ist.
Die Behandlung der Aussiedler aus Polen im Rahmen einer Arbeit über »Polen in der Bundesrepublik Deutschland« mag auf den ersten Blick befremden. Handelt es sich bei ihnen laut Bundesvertriebenengesetz doch um Personen deutscher Volkszugehörigkeit. Insofern ist die ethnische Zugehörigkeit zur deutschen Minderheit eben die Voraussetzung zur Anerkennung als Aussiedler und der deutschen Staatsangehörigkeit. In der praktischen Beratungstätigkeit unseres Vereins mussten wir jedoch feststellen, dass die Trennungslinie zwischen Personen deutscher "Volkszugehörigkeit" und Personen "polnischer Abstammung" keinesfalls anhand der Kriterien der deutschen Vertriebenengesetzgebung gezogen werden kann. Dies bedeutet, dass es polnische Staatsangehörige aus deutschen Familien gibt, die im Rahmen der hiesigen Gesetze keinen Aussiedlerstatus erhalten und - dies betrifft den weitaus größeren Teil - es zahlreiche Personen polnischer ethnischer Zugehörigkeit gibt, die hier als Aussiedler anerkannt worden sind.
Dies hat mehrere Ursachen:
Paragraph 6 des Bundesvertriebenengesetzes lautet: "Deutscher Staatsangehöriger im Sinne dieses Gesetzes ist, wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird."
Aufgrund der polnischen Nachkriegspolitik, die eine zwangsweise Assimilierung der im Lande verbliebenen Deutschen verfolgte, fällt es fast allen Aussiedlern heute schwer, die "Volkszugehörigkeit" durch die Merkmale der Kenntnis der deutschen Sprache oder der "deutschen Kultur" 49 nachzuweisen. Ein öffentliches Bekenntnis zum "deutschen Volkstum" gar konnte in der Vergangenheit für den Betreffenden verhängnisvolle Konsequenzen haben50.
Zum Beweis der "Volkszugehörigkeit" verblieb ergo nur der Beweis der Abstammung; Dies geschah und geschieht mittels deutscher Dokumente oder indem man sich auf deutsche Vorfahren beruft, deren Existenz anhand deutscher Archive (sogenannte "Heimatkarteien", Sold-Listen der Wehrmacht etc.) überprüft wird, Die Heranbringung entsprechender Dokumente war auch deswegen schwierig, weil polnische Behörden sich kaum kooperativ zeigten. Besonders fragwürdig erscheint dabei die Tatsache, dass als Kriterium für die deutsche "Volkszugehörigkeit" auch sogenannte "Volkslisten" des Dritten Reiches herangezogen werden.
Hierbei muss bemerkt werden, dass zu jener Zeit die Frage der Volkszugehörigkeit weitaus zynischer und pragmatischer gehandhabt wurde, als es die Rassenideologie der Nationalsozialisten vermuten lässt. So wurden auch Kollaborateure und unabkömmliche Personen als "eindeutschungsfähig" auf entsprechenden Volkslisten vermerkt51. Es wurden auch Personen aus den besetzten Gebieten gegen ihren ausdrücklichen Willen zu Deutschen erklärt und zur "Assimilierung" nach Deutschland verbracht52. Ihre Nachkommen erhielten unter Berufung auf diesen Eintrag den Vertriebenenstatus53. Zu den Auswirkungen der Annerkennungspraxis zitiere ich hier auch die eindringliche Schilderung von Witold Kaminski, des langjährigen Vorsitzenden des Polnischen Sozialrates in Berlin:
"Seit über 40 Jahren ist die Tatsache, dass jemand in der Familie während des Krieges mit den Deutschen kollaboriert oder gar an Kriegsverbrechen teilgenommen hat, in Polen kein Grund, um Stolz zu empfinden. Vielmehr schämte man sich. Gleichgültig, ob man aus Überzeugung oder Opportunismus die Volkslisten unterschrieben hat, ob man sich aktiv als Spitzel oder Soldat oder passiv als Mitläufer beteiligt hatte, man stieß in Polen überall auf Ablehnung. Nun - nach vierzig Jahren - versuchen viele junge Polen, sich mit der Scham der Familie den Aufenthalt in der BRD zu sichern. Hier wird man, für den Verrat, die Teilnahme an Krieg und Kriegsverbrechen mit einem bundesdeutschen Paß belohnt. Für viele junge Polen gleicht somit ein Bekenntnis zum "deutschen Volkstum" einem Bekenntnis zum Nationalsozialismus Es kann kaum verwundern, wenn sie dann meinen, sich hier auch so verhalten zu müssen" (Kaminski/Meister: 1989, S. 17f.).
Im März 1988 wurde auch publik, dass mit gefälschten Dokumenten, die zur Anerkennung als Aussiedler benötigt wurden, ein schwunghafter Handel getrieben wurde54. Laut Bundesvertriebenengesetz erhielten zudem auch Ehegatten und Kinder der Personen deutscher "Volkszugehörigkeit" die Anerkennung als Spätaussiedler, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Darüber hinaus sind uns aus unserer Arbeit auch Personen bekannt, deren Eltern zwar zweifelsfrei der deutschen Minderheit in Polen angehörten, die sich ihrer eigenen ethnischen Zugehörigkeit aber keinesfalls so sicher sind.55 Sie sind in Polen aufgewachsen, dort sozialisiert, beherrschen die deutsche Sprache nur teilweise und fühlen sich durch andere Deutsche abgelehnt, die keinen Unterschied zwischen ihnen und polnischen Asylbewerbern sehen.
Anzumerken ist auch die besondere Situation der Masuren. Dabei handelt es sich um eine einen polnischen Dialekt sprechende, protestantische Minderheit, die überwiegend im ehemaligen Ostpreußen heimisch ist. Ihre protestantische Konfession im überwiegend katholischen Polen wurde im Kaiserreich von deutscher Seite zu einer "divide et impera"-Strategic benutzt. Masuren wurden anderen Polen gegenüber bevorzugt und entwickelten so eine Loyalitätshaltung gegenüber dem Deutschen Reich. Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie von den polnischen Behörden und auch der Bevölkerung als unsichere Kantonisten angesehen und waren Repressionen ausgesetzt. Ein großer Teil von ihnen siedelte daraufhin in die Bundesrepublik aus.
Insgesamt kann die Zahl der anerkannten Aussiedler, die man aufgrund ihrer Selbsteinschätzung und objektiver Umstände eher zur polnischen Minderheit in Deutschland rechnen konnte, nur geschätzt werden 56. Es wäre auch mindestens genauso fragwürdig wie die bisherige Anerkennungspolitik, wollte jedwede Instanz eine erneute Überprüfung der Aussiedler im Hinblick auf eine "tatsächliche" ethnische Zugehörigkeit unternehmen. Eine vorurteilsfreie Herangehensweise an dieses Phänomen erscheint mir jedoch im Sinne der Aussiedler selbst notwendig.
Bedenkenswert erscheint mir die Position des polnischen Botschafters Janusz Reiter, der unlängst auf einer brandenburgisch-polnischen Nachbarschaftskonferenz forderte, "das polnische Element in der Identität der Aussiedler als Bereicherung zu verstehen und zu fördern".
Eine Aufarbeitung dieses Phänomens durch die Wissenschaft stößt auf erhebliche Schwierigkeiten. Aussiedler aus Polen - auch wenn sie sich selbst eher als Polen definieren würden - scheuen sich, dies öffentlich zu bekennen. Das "Bekenntnis zum deutschen Volkstum" ist Grundlage ihrer Existenz und Voraussetzung für den Erhalt des bundesdeutsche Passes, der sie zumindest rechtlich allen anderen Staatsbürgern gleichstellt und vor nackter materieller Not schützt. Uns sind aus Gesprächen Personen bekannt, die Angst hatten ihren deutschen Pass zu verlieren, wenn sie sich offen als Polen definieren würden. Der Assimilierungsdruck, unter dem diese Menschen stehen, ist ungeheuer. Eine polnische Ärztin mit psychiatrischer Zusatzqualifikation aus Berlin berichtete uns von Fällen, in denen dies bei psychisch labilen Personen zu akuten schizophrenen Zustanden führte.
In der letzten Zeit ist zu beobachten, dass zahlreiche Polen, die hier die Anerkennung als Aussiedler beantragt haben und oft viele Jahre hier gelebt und auf die Entscheidung gewartet haben, nunmehr einen ablehnenden Bescheid erhalten und zur Ausreise aufgefordert werden. Die derzeitige restriktive Anerkennungspraxis mag zwar den Realitäten gerechter werden, führt aber zu Absurditäten. So kennen wir eine Familie, deren Eltern noch als Aussiedler anerkannt wurden und nun als Deutsche in Berlin leben. Den Kindern jedoch, die den Antrag später stellten, wird der deutsche Pass mit dem Hinweis auf die veränderten Anerkennungsbestimmungen verwehrt. Als Polen werden sie nun zur Ausreise aufgefordert. Diese Entscheidung wurde von einem Verwaltungsgericht bestätigt. Von Gerichten bestätigt wurde zum Beispiel auch die Aberkennung des Vertriebenenstatus, weil sich der Vater als Wehrmachtssoldat nach der Gefangennahme durch alliierte Truppen den polnischen Streitkräften anschloss, um gegen das Dritte Reich zu kämpfen 57.
Die Zahl der polnischen Staatsangehörigen in der ehemaligen DDR ist in Zahl und Relation zur Bevölkerung weitaus geringer als in der alten Bundesrepublik Deutschland. Genaue Zahlen liegen mir nicht vor. Im wesentlichen unterteilen sie sich in zwei Gruppen:
Nach unseren Erfahrungen und den Ergebnissen einer kleinen Untersuchung, die Sina Maier 1989 in Zusammenarbeit mit dem Polnischen Sozialrat in Berlin durchführte, ergeben sich für Migranten aus Polen - und dies betrifft polnische Staatsangehörige im gleichen Maße wie Aussiedler - besondere Probleme aufgrund ihrer Sozialisation im dortigen System.
In den Ländern des Ostblocks sollten laut Eigendefinition keine Konflikte zwischen dem Verwaltungshandeln und den Interessen der Bürger existieren. Demzufolge benötigten diese Staaten keine wirksamen Kontrollinstanzen, die das Handeln des Staates und seiner Verwaltung überwachen. Eine Gewaltenteilung existierte nicht oder nur pro forma. Sofern vorhanden, konnte es für den einzelnen Bürger geradezu gefährlich werden, diese auch in Anspruch nehmen zu wollen. Der einzelne hatte also fast keine Möglichkeit, auf eine Korrektur willkürlichen oder unzureichenden Verwaltungshandelns hinzuwirken. Die Bürger Polens sind somit geprägt durch die Erfahrung der Ohnmacht gegenüber dem Staat, seiner Verwaltung, ja sogar dem einzelnen Beamten dem man unmittelbar gegenüber sitzt. Als Resultat hat man in diesen Staaten andere Problemlösungsstrategien entwickelt. Korruption und Vetternwirtschaft gehören dort zum alltäglichen Umgang mit den Behörden. Im Übrigen versuchte man, einen Großteil seines Lebens dem staatlichen Zugriff zu entziehen.
Die Migranten aus Polen nahmen nun oft an, hier auf weniger Bürokratie als in Polen zu stoßen. Kennzeichnend für eine solche Haltung sind Aussagen wie: "In Polen kommt alles auf den Staat an, im Westen auf dich selbst". Im übrigen wurde oft angenommen, dass das Verwaltungshandeln in einer Demokratie prinzipiell gerecht und "im lnteresse der Menschen sein müsse".
Besonders in der Bundesrepublik Deutschland ist das Leben der Migranten aus Polen jedoch in hohem Maße vom Verwaltungshandeln abhängig. Polnische Staatsangehörige sind auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis und einer Arbeitserlaubnis angewiesen. Potentielle Aussiedler müssen als solche anerkannt werden. Alle Migranten sind oft von Sozialämtern, Wohnungsämtern, Arbeitsämtern etc. abhängig. Aus den oben ausgeführten Gründen und auch zum Teil aufgrund von Vorurteilen und Abneigungen werden ihre Angelegenheiten oft negativ beschieden. Falls sie dies erfahren, neigen Migranten aus Polen oft dazu, die hiesigen Verhältnisse mit denen in Polen gleichzusetzen. Und sie versuchen, ihre Interessen mit den aus Polen bekannten Problemlösungsstrategien durchzusetzen Oder sie resignieren, weil sie annehmen, dass der betreffende Beamte Vorbehalte gegen Polen habe und somit "nichts zu machen sei".
Einer der harmloseren Fälle, der uns aus unserer Arbeit bekannt ist, spielte sich auf einem Sozialamt ab. Ein Pole, dem Sozialhilfe bewilligt wurde, weil sie ihm zustand, wollte sich bei den Sachbearbeitern - wie er es aus Polen kannte - bedanken und schenkte der Frau im Dienstzimmer eine Schachtel Pralinen und dem Mann eine Flasche Cognac. Er ließ sich vom abwehrenden Verhalten der beiden nicht beirren. Er war völlig überrascht, als er eine Woche später vorgeladen und verwarnt wurde und seine Präsente wieder mitnehmen musste.
Die Übertragung von Durchsetzungsmustern und Verhaltensweisen, die in Polen geprägt wurden, spielt auch in anderen Bereichen eine wichtige Rolle. Nach unseren Erfahrungen werden die Unterschiede in der Sozialisation von beiden Seiten, den hier lebenden Polen und der Aufnahmegesellschaft, drastisch unterschätzt, insbesondere da Polen, wenn sie sich nicht durch ihre Sprache oder anderes in der Öffentlichkeit zu erkennen geben, nicht als solche auffallen. Dies hat jedoch unseres Erachtens wenig mit "Integration" zu tun.
Da es sich bei der Volksrepublik Polen um ein Staatswesen handelte gegenüber dem und gegenüber seinem als unsinnig empfundenen Rechtssystem die Bürger sich nicht zur Loyalität verpflichtet fühlten oder fühlen konnten, entwickelte sich ein informales Netz von Beziehungen zwischen den Bürgern, das zur Durchsetzung der eigenen Interessen weitaus wichtiger war als staatliche lnstitutionen. Oder mit anderen Worten:
"Die Autonomie der Gesellschaft gegenüber staatlicher Kontrolle äußerte sich positiv und negativ: in einer unabhängigen Kultur, im Erstarken religiöser Institutionen, in der Entstehung oppositioneller Bewegungen, in der Schattenwirtschaft; aber auch in der Korruption oder im illegalen Transfer von Arbeit und Kapital aus dem staatlichen Sektor" (Smolar: 1990, S. 68).
Diese Prägung im System "Volkspolens", die mangelnde Kenntnis der tatsächlichen hiesigen Verhältnisse und mangelnde Sprachkenntnisse vieler neuerer Migranten lassen sie so auch hier auf informelle Beziehungen vertrauen. Sie werden damit zu leichten Opfern von betrügerischen Anwälten, gerissenen Mittelsmännern und anderen, die ihnen versprechen, das jeweils Gewünschte zu »organisieren»58, sei es eine Wohnung, eine Aufenthaltserlaubnis, eine Arbeitserlaubnis, ein Einwanderungsvisum für Kanada oder eine Arbeit. Obwohl uns immer wieder berichtet wird, dass man von Fällen gehört habe, in denen diese Methoden tatsächlich geholfen haben sollen und für Migranten ausweglose Situationen existieren, in denen auf formalrechtlichem Wege für sie nichts mehr zu erreichen ist, so verlieren die meisten doch auf diese Weise erhebliche Summen, ohne einen Gegenwert zu erhalten, oder sie bekommen einen, den sie auch einfacher oder umsonst erhalten hätten.
Eine wiederholte Forderung des Polnischen Sozialrates ist deshalb eine verstärkte Aufklärung, die sich in polnischer Sprache an die Migranten wendet - zumindest in dem Maße, in dem Materialien in den Sprachen der Migranten der Anwerbeländer wie zum Beispiel der Türkei oder Italien angeboten werden.
1991 wurde zwischen der Republik Polen und der Bundesrepublik Deutschland ein Vertrag über "gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit" geschlossen. Dieser Vertrag regelt wechselseitig, was in der bundesdeutschen Öffentlichkeit kaum bekannt scheint, in den Paragraphen 20, 21 und 22 in gleichen Worten die Rechte der polnischen Minderheit in Deutschland wie die Rechte der deutschen Minderheit in Polen. In dem Vertrag sind allerdings nur die kulturellen Rechte der jeweiligen Staatsangehörigen mit der ethnischen Zugehörigkeit zum Nachbarland geregelt59. Insofern betrifft der Vertrag nicht die über 200.000 Polen, die als polnische Staatsangehörige in der Bundesrepublik leben. Und ihre dringendsten Fragen - die des Aufenthalts- und Arbeitsrechts -sind überhaupt nicht Gegenstand des Vertrages. De jure könnten sich also nur die Angehörigen der alten Migration, Nachkommen von Displaced Persons und bereits eingebürgerte Polen auf diesen Vertrag berufen. Ihnen bringt der Vertrag jedoch kaum Fortschritte, da die Pflege der kulturellen Identität bislang auch ohne weiteres im Rahmen des Grundgesetzes möglich war.
Andererseits kann dieser Vertrag durchaus so verstanden werden, daß Aussiedler aus Polen sich wiederum offen auf ihre Bindungen an Polen berufen. Dies ist jedoch insofern problematisch, als Aussiedler aus Polen, um eben jenen Status zu erhalten, sich auf ihre deutsche Abstammung und Bindungen an die deutsche Kultur berufen haben. Es ist uns bekannt, daß viele Aussiedler befürchten, daß damit gegen sie ein Verfahren zur Aberkennung ihres Aussiedlerstatus und ihrer deutschen Staatsangehörigkeit ausgelöst werden könnte. Solche Verfahren - wenn auch aus anderen Gründen - haben bereits stattgefunden.
Diese rechtliche Gleichstellung der Minderheiten bedeutet de facto insofern auch eine Ungleichheit, als die Polen in Deutschland durch Bekenntnis und Pflege ihre Identität- anders als diejenigen, die sich in Polen zu ihrer deutschen Abstammung bekennen - auf absehbare Zeit keine materiellen Vorteile zu erwarten haben. Sofern dieses Bekenntnis zur und die Pflege der Identität stattfinden, so im privaten Bereich oder in informellen Gruppierungen. Warum ein Entstehen eigener effizienter Organisationen, die sich auch offensiv an die deutsche Öffentlichkeit und die hiesigen Behörden wenden, nicht zu erwarten ist, wird auch im folgenden Kapitel erörtert. Eine rege, auch öffentlich auftretende polnische Community in Deutschland wäre wohl nur dann zu erwarten, wenn deren Entstehen auch von deutschen Stellen entschieden gefördert würde. Es darf allerdings bezweifelt werden, daß die derzeitige Bundesregierung ein Interesse daran hat. Eine breite öffentliche Diskussion über die polnische Herkunft vieler Deutscher passt schlecht zu der Fiktion einer ethnisch homogenen Gesellschaft, die sich noch in unseren Gesetzen widerspiegelt.
Eine der effektivsten Problemlösungsstragien in unserer Gesellschaft ist der Zusammenschluß Betroffener zu Interessenverbänden zwecks Durchsetzung gemeinsamer Ziele. Angesichts der Lage vieler polnischer Migranten schiene dies dringend geboten. Eine 1990 in Warschau von der Wspolnota Polska, einer Organisation für Auslandspolen, veröffentlichte Studie zählte in den achtziger Jahren in der alten Bundesrepublik und in West-Berlin über 150 polnische Organisationen, Vereine, Verlage und Kirchengemeinden, davon allein 45 in Nordrhein-Westfalen (Gorski/Tymochowicz : 1990). Trotz der Vielzahl der polnischen Vereine und Organisationen in der Bundesrepublik erscheint mir eine effektive gemeinsame Interessenvertretung der polnischen Minderheit in absehbarer Zeit nicht wahrscheinlich zu sein. Dies hat mehrere Gründe:
Anmerkungen
USA | 8.500.000 | Australien | 300.000 | |
Brasilien | 800.000 | GB | 120.000 | |
Frankreich | 800.000 | Argentinien | 120.000 | |
BRD | 800.000 | Belgien | 60.000 | |
Kanada | 400.000 | DDR | 40.000 |
"... Schätzungen hierüber können nur sehr vage sein, da es zum Wesen der Schwarzarbeit gehört, daß sie im Verborgenen stattfindet und alle Beteiligten bemüht sind, sie nach außen nicht erkennbar werden zu lassen [Der Senat] hält es aber für unbedacht und verfehlt, aufgrund von Schwarzarbeit Vorbehalte gegen ausländische Staatsbürger zu entwickeln. Denn es ist doch unzweifelhaft, daß Schwarzarbeit ausländischer Bürger meist erst durch deutsche Auftraggeber oder Arbeitgeber ermöglicht wird".In polnischen Medien tauchte unlängst eine Zahl von 500.000 geschätzten polnischen Schwarzarbeitem in der gesamten EG auf. Im Vergleich hierzu wurden im Jahre 1989, in dem ich keinen Grund für eine geringere Zahl von Schwarzarbeitern sehe, nur 27.700 Verfahren wegen der illegalen Beschäftigung von Ausländern eingeleitet.